Kürzlich schaute mich eine Freundin entsetzt an: „Was, du gibst tatsächlich dein Geburtstjahr an? Im Ernst? Im Gespräch und auf deiner Website, sogar in der Kurz-Biografie in einem Buch…“ Sie fand das unnötig, irgendwie beschädigend und schüttelte den Kopf. Die sieben Jahre Jüngere ist lieber alterslos, zumindest auf dem Papier. Warum, fragte ich zurück, sollte ich verschweigen, dass ich im Jahr 1950 geboren bin?

Klar, ich weiß, mit 72 ist Frau alt – objektiv gesehen. Und ja, Ageism existiert. Dieses in Mode gekommene Wort klingt moderner und netter als die hässliche deutsche Übersetzung: Altersdiskriminierung. (Natürlich gibt es auch einen Ageism, der Jüngere ausgrenzt, aber darüber müssen die Betroffenen selbst schreiben). Zwar sind auch Männer im Rentenalter betroffen, wie kürzlich der Kollege Harald Martenstein im Zeit-Magazin launig und ausführlich schilderte. Aber Frauen soll es (noch) härter treffen… schließlich wird das weibliche Geschlecht bis heute stärker nach dem Aussehen bewertet. Falten machen Frauen nur bedingt „interessanter“, die Kerle schon eher. Ältere Frauen werden unsichtbar(er), heißt es, aber nur wenn ihr Männerblicke alles waren und sind. Auf viele kann Frau eh verzichten, auf intelligente Gespräche und Freund:innen dagegen nicht.
Doch wann ist die kritische Alterszone erreicht? Wo liegt die Jahresgrenze, ab der es vermeintlich schlauer und tatsächlich von Vorteil sein könnte, das Alter zu verschweigen – natürlich in der Hoffnung, jünger geschätzt zu werden und den Job oder den Auftrag zu bekommen? Spätestens, wenn eine Frau vor einem Ressortleiter oder einer Verlegerin steht, die ihre Kinder sein könnten, schlägt die Stunde der Wahrheit.
Manche bekommen schon mit Vierzig Panik, ich zauderte zum ersten Mal mit Fünfzig, die Sechziger Schwelle überschritt ich dagegen leichtfüßig. Aber mit einer Sieben ganz vorne in der Altersangabe, musste ich doch kurz schlucken und durchatmen, um mich dann sehr bewusst dafür zu entscheiden, mein korrektes Geburtsdatum weiterhin zu nennen. Weil es zu mir als „Ganzmensch“ gehört. Weil ich meine Biografie, die in so einer Jahreszahl auch aufscheint, nicht unsichtbar machen will. Und sich verleugnen, das mussten Frauen, ob alt oder jung, viel zu lange tun.
Noch Anfang des 20. Jahrhunderts schrieben unzählige Schriftsteller:innen – wie etwa George Sand – unter einem männlichen Pseudonym. Im vergangen Jahr aber erhielt die 1940 geborene Französin Annie Ernaux den Literaturnobelpreis, sie schreibt immer noch Tag um Tag weiter und zwar als mutige „Ethnologin ihrer selbst“. Künstler:innen wählten früher auch gerne uneindeutige Namen: Die Designerin Eileen Gray nannte ihre Galerie Jean Desert, um auch männliche Kundschaft anzulocken. Wissenschaftler:innen verwendeten von ihren Vornamen nur den Anfangsbuchstaben und setzten einen Punkt dahinter, um Macho-Kollegen zu täuschen; nur deshalb erhielt die Atomphysikerin Lise Meitner lobende Briefe, sie waren dann an Herrn L. Meitner gerichtet.
Dem weiblichen Geschlecht, das noch kein Wahlrecht hatte, wurde auf allen Gebieten – außer dem Haushalt und der Kinderaufzucht – jegliche Kompetenz abgesprochen, und als „Gehirndamen“ verspottete man die klugen und erfolgreichen Frauen. Von Frauenhand Geschaffenes und Geschriebenes wurde weniger ernst genommen und geschätzt - leider auch von den eigenen Geschlechtsgenossinnen. „Mehr Stolz ihr Frauen“, forderte deshalb schon die frühe Frauenrechtlerin Hedwig Dohm (1831-1919).
Stolz gendern wir heute all die neu eroberten Berufe und Positionen bis hin zur „Kanzlerin“ und benutzen das generische Femininum: Jetzt sind die Männer mit gemeint. Stolz entscheiden sich auch immer mehr nicht-binäre* Personen für neue Vornamen, die sie sichtbar machen. Auch daran werde ich am Mittwoch, dem 8. März 2023, denken, wenn der 112. Internationale Frauen*tag gefeiert wird - den ich übrigens dieses Jahr in Lübeck wieder mit organisiert habe. Inzwischen wird der Tag auch mit einem Genderstern geschmückt und immer öfters als feministischer Kampftag bezeichnet. Und dann sollen Frauen wie ich beim Thema Alter den Mund halten, liebe Freundin? Nein, das kommt nicht in Frage.
Meine gelebten Frauenjahre nicht zu verschweigen, heißt zu meiner Biografie zu stehen, die sich in solchen Jahreszahlen auch abbildet. Als „Ganzmensch“ gegen Ageism und gegen die Diskriminierung der Frau* zu sein, das gehört zusammen. Und das betone ich auch allen Freund:innen und Kolleg:innen gegenüber, die zwar den Geburtsort willig nennen, aber immer noch auf Leerstellen bestehen, wenn es um das wann geht, obwohl sie erst 40, 50 oder 60 sind!
Als ich mich entschieden hatte, genau diesen Blog zu schreiben, kam mir eines Abends der folgende, alte Kindervers in den Sinn:
Ene mene miste, es rappelt in der Kiste.
Ene mene muh und raus bist Du!
Raus bist Du noch lange nicht,
sag mir erst, wie alt Du bist!
Das mache ich natürlich gerne! Aber welches Alter habe ich, und wenn ja wie viele?
Eine klare Antwort liefern die bereits erwähnten harten Fakten: Geboren 1950, das heißt, ich bin im 73. Lebensjahr. Das ganze wird jedoch modifiziert durch die ärztliche Diagnose des „biologischen Alters“: Da ich Glück habe und noch recht gesund bin, gehen hier netterweise einige Jahre runter!
Für noch mehr „Verjüngung“ sorgt schließlich das "gefühlte Alter". Und hier würde ich sagen: Augenblicklich fühle mich eher wie Fünfzig, weil ich gerade wieder an einem Buch sitze und kreativ bin. Und das funktioniert auch nur, weil ich seit langem nicht allein in Sachen Stolz auf Hedwig Dohm gehört habe. Sie warnte nämlich alle, die in die Jahre kommen, vor einer Falle: „Untätigkeit ist der Schlaftrunk, den man dir, alte Frau, reicht. Trink ihn nicht! Sei etwas! Schaffen ist Freude: Und Freude ist fast Jugend.“ Der Beruf verjüngt, und Erfahrung erweist sich jetzt als besonders nützlich; den vielen Jahren Schreibtätigkeit und siebzehn Büchern sei Dank! Aber wenn ich heute einmal wie früher bis in die Nacht hinein schreibe, sehe ich am nächsten Tag schnell wie Hundert aus und fühle mich auch genauso! Das steckt eine alte Frau wie ich – das sind dann leider wieder die harten Facts! – nicht mehr so leicht weg.
Alt fühle ich mich auch, wenn ich zum Beispiel auf der Autobahn fahrend Radio höre und dabei immer weniger Sänger:innen und Bands und ihre Songs kenne. Zum Glück werden Elvis und die Beatles, Annie Lennox und David Bowie weiter gespielt oder Elton Johns Kompositionen gecovert. Diese zu hören, verjüngt augenblicklich um Jahrzehnte! Und Zeitreisen im Kopf zurück in jüngere und wilde Zeiten kann mir eh niemand verbieten.
Sehr alt fühle ich mich manchmal, wenn ich plötzlich in Gedanken Sätze forme, die mit den Worten beginnen:“ Zu meiner Zeit…“. Aufgepasst, sage ich mir dann, hier spricht gerade „die Oma“. Ein Wort das meine Enkel:innen natürlich gerne benutzen dürfen, aber ein Rüpel in der Bahn nicht. Welche Schimpfwörter ich für ihn parat habe, verschweige ich höflich.
Mein Geburtsjahr macht mich auch nicht automatisch zu einer TERF (Trans-Exclusionary Radical Feminist), dem neusten Schimpfwort der jungen, ultravioletten Generation für „alte Feministinnen“ wie mich, die sofort unter Alice-Schwarzer-Klon-Generalverdacht stehen. Empört frage ich mich, was das bitte soll: „Schließlich habe ich doch ab 1968 ganz schön in der Emanzipationskiste gerappelt… in der zweiten Frauenbewegung gegen das Patriarchat gekämpft… zu meiner Zeit...“ Vorsicht, dass jetzt nicht wieder die „alte weiße Frau“ hinter den modernen Klamotten hervor lugt. Denn dann hieße es zu Recht: Ene mene muh und raus bis du!
Raus sind wir zum Glück seit Langem aus den typischen Kleidern„für ältere Damen“, unauffällig in grau und beige zu gehen war vorgestern. Bis ins hohe Alter hübschen wir uns auf, schminken die Lippen dunkelrot und tragen große Ohrringe. Und rockiges Black bleibt sowieso dauerhaft beautiful: Zum 72sten Geburtstag habe ich mir eine schwarze Lederjacke gewünscht und auch bekommen! Und inzwischen gibt es - Göttin sei Dank! - sogar schickes und bequemes Schuhwerk für Füße, die eine frauensensible, perfekte Schuhverkäuferin „anspruchsvoll“ nennt. Und genau auf solchen werde ich am 8. März, dem Frauen*tag, tanzen und in den nächsten Monaten auf die stolze Dreiundsiebzig zu gehen, denn: Raus bis du noch lange nicht, sag mir erst wie alt du bist!
Charlotte Kerner
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Liebe Ele,
danke für das Lob. Viele Freund:innen haben sich über den Blog gefreut und mir inzwischen versichert, dass sie ihr Alter stolz nennen. Was den Gott bzw. die Göttin angeht: Der Witz ist gut, aber Göttinnen kenne ich trotzdem viele, angefangen bei Gaia, der Erdgöttin... Und gerade wenn es um bequeme Schuhe geht, verlasse ich mich lieber auf weiblichen Beistand & Geschmack. Aber letztlich halte ich es sowieso eher mit Donna Haraway, die erklärt: Ich bin lieber Cyborg, statt Göttin! Herzlich Charlotte
Großartiger Text, großartige Einschätzungen, habe alles begeistert nickend gelesen, nur "Göttin sei Dank" ließ mich stutzen. Der einzige Witz, den ich mir merken konnte und kann, ist der:
"Wieso kann Gott auf keinen Fall eine Frau sein?" Antwort: "Gott hat leider noch nie zu den Menschen gesprochen, das würde eine Frau nicht fertigbringen." Das ist ein positiv gemeinter Witz über die Kommunikationsfähigkeit und -bereitschaft von uns Frauen, deswegen ruhig weiter "Gott sei Dank", sagen. Das halten wir engagierten Frauen aus.😏