Oder
Mein Wasser-Jahr der Hasengöttin

Holprig fing das neue Jahr für mich an, ein Virusinfekt hatte mich aus dem Takt gebracht. Ich war zu schwach für Vorsätze oder gar Visionen. Auch die Arbeit am ersten Blog im neuen Jahr verschob sich, weil ich mein persönliches Motto für die kommenden zwölf Monate noch nicht gefunden hatte, aber genau darüber wollte ich schreiben. Erst am 22. Januar, als ich endlich wieder gesund und im Lot war, wurde ich prompt fündig und erklärte 2023 zu meinem Wasser-Jahr der Hasengöttin, und das kam so.
An vierten Sonntag im Januar traf sich – schon lange geplant! – unsere Literaturgruppe endlich wieder, um über das „Blutbuch“ zu sprechen, das 2022 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Den Umschlag des Romans dominiert auf einem tiefblauen Hintergrund die Farbe Rot. Das passte, weil Autor* Kim de l´Horizon den wunderbaren Roman, in dem sich eine Blutbuche im Leben deren Familie sehr verwurzelt und verzweigt, mit sehr viel Herzblut geschrieben hat. Außer für Verletzungen und blutrünstige Gefühle steht die Farbe Rot hierzulande natürlich auch für die Liebe, um die sich in diesem Buch vieles dreht. In Asien gilt Rot als die Glücksfarbe schlechthin. Deshalb leuchten rote Lampions und rotgoldene Glücksbringer jedes Jahr am chinesischen Neujahrsfest um die Wette, das 2023 genau an diesem vierten Januarsonntag gefeiert wurde und so mit unserer blutroten Lektüre zusammenfiel. Begonnen hat am 22. Januar das „Jahr des Wasser-Hasen“. Denn die chinesischen Tierkreiszeichen gelten nie nur einem Monat lang, sondern eines der zwölf Tiere und eines der fünf Elemente prägen immer ein ganzes Jahr.

Obwohl ich nicht abergläubisch bin, wusste ich sofort: Dieses Zusammentreffen war mehr als ein Zufall, zumal das „Jahr des Wassers“ literarisch kaum passender hätte starten können. Im „Blutbuch“ webt der nonbinäre und fluide Autor auf unzähligen Seiten fließende Wasser-Metaphern in den Text, sinnfällig geworden auch in der tiefblauen ozeanischen Farbe des Umschlags. Wir versinken mit ihm in zwei großen „Meeren“, der Großmutter und Mutter, die auf Berndeutsch eben „Meer“ heißen. Der Roman endet mit einer Beschreibung der Sprache als „Zungen (die) tropfen, tröpfeln, verschwimmen, strömen, wurzeln, fließen.“ Und weil ich selbst schreibe und Ende 2022 über das Element H2O den Prosatext „Der Tanz um das goldene Wasser“ veröffentlichen konnte, deutete ich das als gutes Omen vor allem für mich als Autorin, auf dass in den kommenden zwölf Monaten mein Gedankenflow und Schreibfluss nicht versiegen, sondern weiter fließen mögen.
Ohne Wasser würde das Erdenleben, wie wir es kennen, nicht existieren. Wasser ist der Stoff, der alles durchdringt, verflüssigt und durchlässiger macht, der unaufhaltsam strömt und überall hinkommt. Deshalb sollte es 2023 den Menschen, zumal wir doch zu 70 Prozent aus Wasser bestehen, leichter fallen, statt des Trennenden wieder stärker das Gemeinsame und Verbindende zu betonen - so eine Deutung des chinesischen Jahreshoroskops. Nach dem heftigen Auf und Ab im vergangenen Umbruch- und Krisenjahr, im dem machthungrige und unruhige Tiger regiert hat, sei das umso wichtiger und der „Hase“ dafür der ideale Begleiter. Weil er unter den chinesischen Tierkreiszeichen als sanfter Geselle und ausgleichender Diplomat gilt, der Kompromisse finden kann.
Ferner sei das Hoppeltier, las ich weiter, sowohl dem Yin und als auch dem Yang zugetan, dem Männlichem wie dem Weiblichem. Stichworte, bei denen ich sofort vom Hasen auf die Häsin kam und an non-binäre Personen, also wieder an das „Blutbuch“, denken musste. Aber vor allem kam mir dieses Wesen mit den Hasenohren in den Sinn, neben dem ich vor einiger Zeit gestanden hatte, verzaubert durch ihre Aura. Ein Artikel mit Bild in der Tageszeitung TAZ hatte meiner Erinnerung auf die (Hasen)Sprünge geholfen, genau einen Tag (!) vor dem chinesischen Neujahrsfest – die nächste glückliche Fügung! Auf dem Zeitungsfoto hatte ich die Bronze-Skulptur wiedererkannt, die seit dem 21. Januar in der Berliner Galerie Kolbe die Besucher:innen begrüßt. Noch vor zwei Jahren thronte dieses Mensch-Tier-Wesen vor der Kathedrale von Palma de Mallorca und gewährte unserer Familie im Frühjahr 2021 eine stumme Audienz, was Fotos aus meiner Handy-Mediathek bezeugen

Die Chimäre, von der japanische Künstlerin Leiko Ikemura erschaffen, trägt den Namen Usagi double-headed Höshi. der das japanische Wort für Hase (Usagi) mit dem Wort Stern (Höshi) verbindet. Denn wie Sterne am Firmament durchbrechen Löcher, durch die Licht dringen kann, den glockigen Rock; er gewährt Unterschlupf wie in der christlichen Ikonographie der Schutzmantel Marias. Schmerzendes Mitgefühl bezeugen das Gesicht und die vor die Brust gepressten Pfoten-Hände; tierische und menschliche Mimik und Körperteile verschmelzen in diesem Schutzgeist in einer neuen Natur, „ohne Herrschaft und Unterwerfung“. Nach dieser Deutung im TAZ-Artikel habe ich, ohne zu zögern, das hybride Wesen als besondere „Gefährten-Spezie“ (wie die Philosophin Donna Haraway sagen würde) zu meinem Symbol für 2023 auserkoren. Das Jahr des Wasserhasen habe ich zu mein Wasser-Jahr der Hasengöttin gemacht.
Heute bedauere ich, bei unserem ersten Zusammentreffen – im Gegensatz zu unserem Sohn – nicht unter ihren Rock geschlüpft zu sein. Vielleicht hatte ich unbewusst befürchtet, darunter könnte sich ein Kaninchenbau auftun, durch den ich zu Alice ins Wunderland rutschen würde. Oder dort stünde eine Telefonzelle, durch die mich Neo und Trinity in die Matrix („Folge dem weißen Kaninchen!“) beamen würden. Warum bloß bin ich so hasenherzig und hasenfüßig gewesen?
Diese zwei Adjektive beschreiben heute ein zögerliches und feiges Verhalten: Schließlich machen sich hakenschlagende Hasen schnell aus dem Staub, fliehen vor der Gefahr, statt sich ihr zu stellen. Aber genau das kann manchmal auch nötig und schlau sein, um zu überleben (…statt Krieg um jeden Preis und mit immer schwererem Gerät zu führen. Keine Angst, ich steige nicht in das Thema „Waffenlieferungen an die Ukraine“ ein, aber der Gedanke überfiel mich mal wieder. Wie so verdammt oft in diesen Tagen). Noch im Mittelalter war diese Schläue und Schnelligkeit gemeint, wenn ein Ritter sich mit den Beinahmen Hasenherz schmückte. Listig und leichtfüßig war er dann seinen Feinden entkommen. In Asien verkörpert der Hase weiterhin diese Eigenschaften, weshalb Chinesische Astrolog:innen im Jahr 2023 mehr Harmonie und Konfliktlösungen erwarten.
Schön wär´s, aber die Erschafferin der Hasengöttin warnt uns, indem sie an die Wand der Berliner Galerie schreiben ließ: „nichts ist lustig/zur zeit… “
Es wird unlustig bleiben und immer kritischer werden in den kritischen Zonen. Die Klimakatastrophe, die auch eine Wasserkrise ist, kann unsere Spezie mit Leichtigkeit hinwegspülen. Trotzdem: Ich will in den nächsten zwölf Monaten den Kopf hochhalten über dem ansteigenden Meeresspiegel, nicht untergehen, sondern die Wellen umarmen und im (Schreib)Fluss und den (Wort)Fluten schwimmen. Dabei vertraue ich weiter auf den Beistand der schützenden Häsin, wie schon am 22. Januar, dem chinesischen Neujahrsfest, geschehen. Denn am Ende dieses Sonntags stieß ich nachts, als ich nach unserer Literaturgruppe den Roman „Blutbuch“ noch einmal durchblätterte, unter den vier vorangestellten Textstellen auf Seite 7 auf ein Zitat der englischen Schriftstellerin Virginia Woolf, das ozeanische Weite (Wasser) und Heimat (Kaninchenbau) zusammenbringt und deshalb als Motto für mein kommendes Wasser-Jahr der Hasengöttin wunderbar taugt: „Ich bin verwurzelt, aber ich fließe.“
Nur wenige Tage nach diesem Glücksmoment musste ich feststellen, dass es diesen Satz längst als gerahmtes Achtsamkeitszitat zu kaufen gibt – was ihn natürlich nicht schlechter macht. Außerdem können auch T-Shirts mit dem Aufdruck "I am rooted, but I flow" bestellt werden – was ich natürlich sofort tat. Ich bin also gut gewappnet für 2023. Und das wünsche ich natürlich auch allen Leser:innen, in diesem Sinn

Charlotte Kerner
*Die Zitate aus Kim de l`Horizon: Blutbuch, Dumont München: 4. Auflage 2022
stehen dort auf den Seiten 334 und 7.
Hat Sie/Dich der Post interessiert? Ich freue mich über einen Kommentar!
liebe Charlotte,
als auch im
november geborener
finde ich anscheinend Nebel und Nichts
(Nichts ist was es ist)
-und da finde ich auch in der Mitte des Blutbuchs eine Stelle, wo ich vertrautes Terrain, festen Boden im Nichts finde (pp260ff)-
nicht mehr ganz so furchtbar wie früher
und dazu und zur häsin fällt mir eine Vignette aus der Geschichte einer schwer traumatisierten iranischen Patientin ein, die in ihrer mit dem Wasser ihrer Tränen angereicherten Erzählung unfassbarer Schmerzen überraschend nun in der Erzählung Ruhe und Schutz finden konnte wie als kleines Kind, als sie sich in und unter der burka ihrer Mutter verstecken konnte
und es schien mir im miterleben wie das entstehen einer neuen Welt, wo ich -unbewußt- "diesen" (konkreten)…