Wie ich die Handarbeitsstunden in der Schule gehasst habe! Denn ich wusste schon früh, dass ich in meinem zukünftigen Leben niemals Monogramme auf Kopfkissen sticken und Spitzendeckchen häkeln würde. Und das Häkeln von Topflappen war für ein aufmüpfiges Teenager-Mädchen Mitte der 1960er-Jahre ein absolutes No-Go, denn: „Wer sich nicht wehrt, endet am Herd“, und das hatte ich auf keinen Fall vor.
Damals half mir meine Mutter bei der Häkel-Hausaufgabe, genauer: Sie griff für mich zur Nadel, um ein „Ungenügend“ abzuwenden. Als ich meiner Handarbeitslehrerin triumphierend die bunte quadratische Kreation mit ebenmäßigen Linien, hübschem Zackenrand und Aufhänger überreichte, fragte sie nicht nach (ich hätte sie glatt angelogen), aber sie ahnte wohl alles. Trotzdem bescherte mir der Topflappen im verhassten Fach die Gesamtnote „Befriedigend“, und eine Weile hing er sogar in einer Vitrine mit den „schönsten Handarbeiten“, was wiederum meine Mutter freute.
Ich bin nicht am Herd gelandet und kann heute immer noch nicht häkeln, nur Letzteres habe ich dieses Jahres zum ersten Mal in meinem Leben bedauert. Hätte ich damals geahnt, dass mich diese Fertigkeit zum Teil eines feministischen, umweltkritischen und weltumspannenden Häkler:innen-Kollektivs hätte machen können, wäre keine Häkelnadel vom 2,5 bis 6 Millimeter, kein Garn- und Wollknäuel vor mir sicher gewesen. Dann hätte ich im Jahr 2022 als eine von 4000 Mitwirkenden nach Anleitung einige der 40 000 Korallen gefertigt, die sich von Januar bis Juli in Museum Burda in Baden-Baden zu einem Satelliten-Korallen-Riff zusammenfanden und zwar in der Ausstellung "Vom Wert und Wandel der Korallen".
Um ein erstmals 2019 auf der Biennale in Venedig ausgestellte großes Crochet Coral Reef wucherten sie durch die Stockwerke, in Fahrstühlen und an Wänden entlang, kuratiert von den Zwillingsschwestern Margaret und Christine Wertheim. Die gebürtigen Australierinnen machen seit 2005 in ihrer Arbeit lustvoll und sinnlich diese bedrohte Lebensform sichtbar, die in ihrem ozeanischen Element, das immer saurer und wärmer wird, zunehmend erbleicht und verschwindet. Ihre Kunst ist das emotionale Gegenprogramm.
Das gehäkelte Korallenriff ist eine ‘SF-Story’ aus Fadenfiguren, Science-Fact, Science-Fiction, genähten Fantasien und spekulativen Fabeln, schreibt die kalifornische Philosophin Donna Haraway im Katalog zur Ausstellung: Dieses hyperbolische Riff ist materiell, figurativ, kollaborativ, tentakelhaft, weltlich, im Gewebe und auf den Oberflächen der Erde verstreut, spielerisch, ernsthaft, mathematisch, künstlerisch, wissenschaftlich, fabelhaft, feministisch, geschlechtsübergreifend und multispeziesistisch. Wow, welch ein Satz! Mehrmals las ich den Text und stand danach umso überwältigter und ehrfürchtiger neben den Koralleninseln, denn genau so fühlte auch ich mich inmitten der extravaganten Kunstwesen.
Alle Besucher:innen und die zum Riff-Beitragenden haben sich zu Anwältinnen der stummen Korallen gemacht und ihnen eine schreiend-bunte Stimme in einem globalen Chor gegeben. Für unsere sprachlose Mitwelt laut und sichtbar Partei zu ergreifen, ist nötiger denn je. Längst wird über einklagbare Rechte für Ökosysteme* und den Ökozid als Straftatbestand weltweit debattiert.
* Aktueller Kommentar: Nur neun Tage, nachdem dieser Text online ging, am 21. September 2022, meldeten Nachrichtenagenturen, dass zum ersten Mal in Europa die spanische Salzwasserlagune Mar Menor den Personenstatus erhält. Ihr Recht, "als Ökosystem zu existieren", ist fortan gesetzlich abgesichert.
Je einnehmender und ansehnlicher die zu rettenden terrestrischen Formen sind, umso mehr Helfer:innen finden sie. Da hat es im Vergleich zum exotischen Regenwald und den schönen Korallen das düstere, dunkle Moor erheblich schwerer.
Unheimlich kam mir diese Landschaft immer vor, in der jede:r versinken kann und in dem Moorleichen Hunderte von Jahren überdauern. Über das Moor stapfte die Strafkolonie der Moorsoldaten und ziehen bis heute in Horrorfilmen Nebelschwaden, die Monster gebären. Doch das mörderische Moor trockenzulegen, um Land zu gewinnen und Torf abzubauen, machte es nur noch gefährlicher: Es mutierte zum unsichtbaren, aber effektiven Klimakiller! Weil sein Abbau und die Verwandlung in Ackerland Kohlenstoff freisetzt, der sich mit Sauerstoff zum schädlichen CO2 verbindet, was wiederum die Klimaerwärmung forciert…. wobei wir wieder bei den gefährdeten Korallen im viel zu warmen Meer angelangt sind: Alles hängt eben zusammen.
Dabei sind Moore eigentlich Lebensretter: Sie "fressen" nämlich die Treibhausgase. Ihre Fähigkeit, große Mengen Kohlenstoff zu speichern, macht Moore zu wichtigen Verbündeten im Kampf gegen die Klimakatastrophe. Lange waren solche Zusammenhänge unbekannt oder gerieten in Vergessenheit, die Landgewinnung war das oberste Ziel. Deshalb wurde in diesem Sommer auf der "Fachtagung Moor" in Bremen dem Moormissbrauch der Kampf angesagt. Ein unglaubliches Wort, auf das ich in einem Spiegel-Artikel über den Kongress stieß. Denn diese Diagnose macht das Moor zu einem geschundenen (Mit)Lebewesen, das gesunden muss. Dafür wird es – wie es im Fachjargon heißt – wieder vernässt.
Eine Ahnung, wie schön die gesunden, vor Wasser strotzenden Feuchtgebiete aussehen können, sah ich im Juli in Bremen bei einem Besuch im „Paula Modersohn-Becker Haus“. Die Malerin hinterließ viele Moorbilder. Um 1900 entstand ihr Gemälde „Moorgraben“, das ich im Museum auch als Postkarte kaufen konnte. Wie die Künstlerin den fast meerblauen Wasserlauf durch die braun-grüne Erde führt und den hellbraunen Tupfer setzt, ließ mich nicht nur an einen weiblichen Torso denken, sondern auch an einige der dunklen Spalten und Nischen des gehäkelten Korallen-Riffs in Baden-Baden – heraus gezoomt, als Großaufnahme.
Vor dem Ölbild stehend fragte ich mich, wie sich wohl ein von Maler:innen und Bildhauer:innen gemeinsam gestaltetes und in die dritte Dimension gebrachtes üppiges, saftiges Moor durch ein Museum schlängeln und es einnehmen könnte. Moor trifft Riff im Kampf gegen Missbrauch – sie könnten viel voneinander lernen.
Nachtrag im Januar 2023: Gerade hat die Heinrich-Böll-Stiftung einen MOORATLAS vorgelegt, mit sehr interessanten "Daten und Fakten zu nassen Klimaschützern", genau wie es der Untertitel verspricht. Außerdem gibt es einen Podcast zum Thema Moore.
Charlotte Kerner
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Sehr schön, Deine fließenden Assoziationen und dazwischen diese wunderbare Moorlandschaft!
Es ist für mich immer wieder faszinierend, wie du es schaffst Themen eine feministische Sichtweise zu geben, bzw. zu entdecken, auf die ich nie gekommen wäre.
Das macht deine Arbeiten für mich so spannend und vielfältig.
Nie langweilig, immer aktuell.
Danke.
Golli